Kultkneipe „Vergebung“ in Leipzig-Connewitz schließt für immer
Eine Augsburger Immobilienfirma hatte das Haus gekauft, in dem sich die Kneipe „Vergebung“ befindet. Nun wurde dem Inhaber Andreas Strobel gekündigt – weil er gegen den Mietvertrag verstoßen haben soll.
Das letzte Bier ist schon seit einigen Tagen ausgeschenkt. An einem verregneten Montag im März hat Andreas Ewald Strobel noch einmal an dem großen runden Tisch Platz genommen. „Ich rauche nicht, aber wollen Sie einen Aschenbecher?“, fragt er, noch immer ganz Gastwirt. Dabei hat seine Kneipe seit Ende Februar geschlossen – für immer.
Aber bevor man über das Ende seiner Kneipe sprechen kann, muss man von diesem Mann erzählen. Denn Andreas Ewald Strobel ist die „Vergebung“. Ein sanfter 68-Jähriger, der in seiner gepflegten Zotteligkeit ein wenig an den französischen Schriftsteller Michel Houellebecq erinnert. Wie er mit größter Ruhe deftige Käseteller und flaschenweise Rotwein aushändigte, ohne je einen Gast warten zu lassen. Bewundernswert, wie er zwischen Tresen und Gastraum fließend aus verschiedenen Schuhen und Schlappen hinaus- und wieder hineinschlüpfte. Wie man dachte: Dieser Mann arbeitet doch nicht nur – er lebt hier. Eine Vermutung, die ihm, wie man heute weiß, zum Verhängnis wurde.
Gastronomische Einrichtung heißt eigentlich „Barabbas“
Die Kneipe „Barabbas“, wie sie eigentlich heißt, benannt nach jenem Verbrecher, mit dessen Hilfe der Präfekt Pontius Pilatus vergeblich versuchte, Jesu Christi Leben zu retten, wurde 2011 in der Bornaischen Straße 33 eröffnet. Strobel hatte zuvor die Gaststätte „Waldfrieden“ schräg gegenüber geführt. Er ging nicht im Guten. Folgerichtig, so sagt er es, nannte er sein neues Projekt nach einem Verbrecher. Aus seinem ersten Slogan „Barabbas – die Vergebung wartet hinter dem Kreuz“ (gemeint war das Connewitzer Kreuz) kreierten seine Gäste bald den neuen Namen. Und natürlich passte das: Der Herr, den einige wegen seiner Strenge im „Waldfrieden“ verachteten, bat nun darum, dass man ihm vergebe. Und es gelang, die „Vergebung“ avancierte zur Kultkneipe. Fragte jemand die Connewitzer, wo man hier auf einheimische Weise ein Bier bekäme, schickte man ihn dorthin. Die „Vergebung“ wurde die eine Kneipe, die nicht nur jeder in Connewitz kannte, sondern anhand derer man bemaß, wer denn überhaupt Connewitzer sei. Wer sich hier noch nie blicken ließ oder gar vom „Barabbas“ sprach? Na, eher nicht. Wer hier hin und wieder sein Bier trank, umzingelt von Kerzen, Grabsteinen und Urnen? Na, ganz sicher. Und je weniger es von diesen urigen Orten im Leipziger Süden gibt, desto schwerer wird es heute, diese Frage zu beantworten: Was denn überhaupt Connewitz ist.
Strobel fremdelte zuletzt mit seinem Kiez. Das erzählt er bei einem letzten Tee in der „Vergebung“. Ihn störe, sagt er, dass der Stadtteil immer öfter zur Kulisse von Demonstrationen wurde, die oft auch in Gewalt resultierten. Angeführt von Leuten, die nicht einmal von hier seien. „Ich sehe nur Gewalt, ich vermisse die Fantasie“, sagt er – und meint dabei Polizisten und Protestierende gleichermaßen. Geblieben wäre er dennoch gern. „Natürlich macht mich das traurig.“ Ein wenig stockt Strobel die Stimme, als er erzählt, wie alles zu Ende ging.
Mit 666 Gutscheinen à 5 Euro verkauft Strobel ungezapfte Biere
Anfangs, sagt er, waren da die beiden Kölner Ärzte, denen das Haus gehörte. Und die ihm darin viel Freiheit vergönnten. „Sie ließen mich machen, dafür bezahlten sie nichts“, fasst Strobel den Deal zusammen. Und so schaffte er auf eigene Kosten eine Brandschutzdecke an. Und richtete sich dafür in der „Vergebung“ ein – zum Teil über das Maß. Viele in Connewitz ahnten, dass Strobel nicht etwa morgens mit dem Fahrrad in seine Kneipe kam. Sondern dass er eigentlich keinen anderen Ort hatte. Dass er dort wohnte. In der alten Remise im Hinterhof bezog er sein Lager. In Köln scherte sich niemand groß darum.
Genau deshalb war es hier auch so wohnlich. An den besseren Tagen der „Vergebung“ konnte man in einer verregneten Samstagnacht aus der echten Welt in dieses Erdgeschoss treten – und eine ganz andere Welt erleben. Oft brannten 100 Kerzen gleichzeitig, Strobel hatte jede einzeln angezündet. Von den Decken hingen surreale, morbide Gemälde. Natürlich waren da die Urnen, die Strobel einem Bestatter abgequatscht hatte. Alles wirkte unaufgeräumt, unlogisch; nicht auf eine abstoßende Art, sondern eher wie das verwunschene Wohnzimmer, das man nie hatte. Die „Vergebung“ war ein Kosmos fernab von Spotify-Playlisten und Instagram-Ästhetik. Gute Fotos konnten im Kerzenschein ohnehin nicht mal die neuesten Handys machen. Die Kneipe war auch nicht zum Festhalten gedacht, sondern für den Moment, für das Jetzt.
Die Corona-Pandemie überstand Strobel, indem er Anleihen für Gerstensaft anbot. Mit 666 Gutscheinen à 5 Euro verkaufte er Biere, die noch nicht gezapft waren. Auch die Kosten eines Brandes Ende 2021 im Hinterhaus, ausgelöst durch einen defekten und wohl illegal installierten Heizstrahler, ließen sich decken. Doch dann verkauften die Kölner Ärzte die Bornaische Straße 33 – an eine Immobilienfirma aus Augsburg, die Deuter Invest GmbH & Co. KG. Sie kündigten ihm vergangenes Jahr den Mietvertrag – mitsamt einer Räumungsklage. „Ich hab keine Lust, dagegen vor Gericht zu gehen“, sagt Strobel. Auch seine Anwältin habe ihm geraten, die „Vergebung“ zu räumen.
Wohnen in Hinterhaus-Remise nehmen neue Eigentümer übel
Ruft man in Augsburg an, wird man an die Becker & Kries Holding in Berlin verwiesen, die für alle Leipziger Deuter-Immobilien die Geschäfte führt. Dort erfährt man: Strobel habe „schon seit geraumer Zeit, ohne Wissen des Vermieters, in einer Remise des Hinterhauses gewohnt“. Die Remise sei „ein unbeheizter Raum, der gewerblich zur Nutzung als Lager“ vorgesehen sei. Wohnen sei auf der Gewerbefläche nicht gestattet. „Da dort keine Heizung vorhanden war, hatte er sich widerrechtlich Heizstrahler eingebaut.“ Der nächtliche Brand im Dezember 2021 habe „nur durch viel Glück nicht zu einem Brandüberschlag auf die anschließende Bebauung geführt, in der Familien leben“. Wegen dieses „widerrechtlichen und sehr gefährlichen Verhaltens“ habe man dem Mieter gekündigt.
Strobel bestreitet den Brand nicht. Aber er habe dafür eine Strafe gezahlt, die Ermittlungen seien abgeschlossen. Aber auch er räumt ein: Die „Vergebung“ funktionierte nur aufgrund der vielen persönlichen Verabredungen, die er mit den alten Kölner Vermietern getroffen hatte. „Mit Augsburg konnte man nicht reden“, sagt er. Er habe mit der Kneipe auch nie Geld verdient. „Das Bier kostete bis zum Schluss 3,30 Euro.“
Das Inventar der „Vergebung“ stellt Strobel jetzt in einem Lager in Grimma unter. Was er dann macht, weiß er noch nicht. „Etwas Neues kann ich nicht aufbauen“ sagt er. „Wer soll das bezahlen?“ Es stimmt: Das alte Leipzig, das Strobel in der „Vergebung“ konservierte, gibt es nicht mehr. Am 1. April soll unter www.sandkoenigin.de eine Website online gehen, auf der Strobel die Geschichte der „Vergebung“ erzählen will. Sogar einen Flyer hat er dafür drucken lassen: „Bethlehem“ steht darauf. „Von denen, die auszogen, um gezählt zu werden.“